Schreiben nach Auschwitz
Auszug aus der Rede von Stefan Heym in der Paulskirche in Frankfurt am Main, Oktober 1988
Nichts ist mehr, nach Auschwitz, so wie es vorher war. Der Rauch aus den Öfen hat das Blau des Himmels für immer getrübt; der Gestank des Orts wird über uns hängen bis ins dritte und vierte Geschlecht.
Nicht daß ich Anklage erhöbe gegen die, denen der Dr. Kohl die von ihm entdeckte Gnade der späten Geburt zugute kommen läßt. Es ist nicht meine Aufgabe, heute und hier Anklage zu erheben; und wer bin ich, mit Steinen um mich zu werfen, die wohl die Richtigen treffen würden, man kann sie gar nicht verfehlen - aber doch auch Falsche.
Die Anklage möge jeder gegen sich selbst erheben. Jeder möge sich prüfen: Wo stehe ich, mit Namen Soundso, und geboren nach Auschwitz, an diesem Herbsttag des Jahres 1988, und wo hätte ich damals gestanden, als die Opfer zusammengetrieben und auf die Reise geschickt wurden zu den Rampen des Dr. Mengele? Hätte ich mich erhoben in Protest? Hätte ich auch nur versucht, eine Rinde Brotes durch die Vergitterung der Güterwaggons zu schieben beim Halt der traurigen Züge auf irgendeinem der Bahnhöfe, durch die sie kamen? Oder mich abgewandt, mit geducktem Kopf, nur nichts sehen und hören - oder hätte ich mitgehöhnt gar und mitgeschrien?
Denn Auschwitz wird auch noch sein, ein Menschheitsalpdruck, nachdem der letzte verscharrt ist, der sich mitschuldig gemacht hat durch sein Reden und Tun, und durch sein Schweigen - durch Schweigen die Mehrzahl.
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